Ein Podcast über die Menschen und Geschichten hinter dem Winterthurer Gewerbe.
Das Gewerbe dieser Stadt ist geschichtsträchtig und lebendig. Mit «Reden & Reissen» richten wir ein Mikrofon hinter die Firmennamen. Gemeinsam mit dem Produzenten Simon Berginz besuchen wir spannende Menschen und bringen die Reissenden unserer Stadt zum Reden.
Gewählte Episode

Der Fisch war sozusagen Beigemüse

Seraina Mastai, Geschäftsleitungsmitglied
Simon Berginz fürs BfE
Herbst 2021
Wie versorgt man die Gastronomie von Winterthur und darüber hinaus mit Frischen Lebensmitteln? Warum wurden Hühner aus Italien in die Schweiz importiert und kann man in einem Kühllager mit kalten Fingern lange ein Gespräch führen? Seraina Mastai von Mastai Comestibles erfrischt die Zuhörenden und unser Büro für Erfrischung wortwörtlich.
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Was war zuerst da? Das Huhn oder das Ei?

In dieser Geschichte ist es das Huhn. Es kommt nämlich aus Italien in die Schweiz und wird dann hier in der Altstadt von Winterthur den Bauern verkauft – in den 1920 Jahren. Und genau dann ist auch der Anfang der Firma Mastai. Der Firma Mastai Comestibles en Gros, wie sie heute heisst.
Zusammen mit Seraina Mastai stehe ich in einem Raum in Winterthur Hegi mit allerlei Maschinen. Chromstahl dominiert die Oberflächen und ein wenig kühl ist es. Die Firma Mastai verarbeitet hier nämlich Lebensmittel wie Fleisch oder Fisch und liefert sie dann ihren Kunden.

Simon Berginz (SB)
Aber zum Arbeiten kannst du ja nicht immer die Winterjacke tragen?

Seraina Mastai (SM)
Doch ich trage schon meist eine Jacke, wenn man mal kalt hat, ist es schon recht mühsam…

SB
Aber wie kommt es eigentlich so weit: Wie kommt eine Firma dazu, in Winterthur im Stadtteil Hegi ein riesiges Kühllager zu haben, in dem Lebensmittel verarbeitet werden – und in dem auch andere Firmen Kühllager mieten? Es fängt alles in Norditalien an.
Die Welt erlebt gerade den ersten Weltkrieg, die spanische Grippe fordert Millionen Todesopfer. In Chiavenna verliert Tranquilo Mastai mit gerade mal 13 seine Eltern an der Grippe. Es bleibt im nichts anderes, als in der Schweiz Arbeit zu suchen. Er arbeitet zuerst in Bischofszell bei einem Gemüsebetrieb, später auf einem Hühnerhof. Ein Teil seines Verdienstes schickt er nach Chiavenna zu seinen drei Schwestern. Und dann, so erzählt seine Urenkelin Seraina Mastai, startet die Firma Mastai. Denn dort gibt es Hilfe für Tranquilo und seine Frau Elisabetta.

SM
Der Besitzer des Hühnerhofs hatte einen Sohn, konnte den Betrieb deshalb nicht an Tranquilo übergeben. Er half ihm aber, etwas Eigenes aufzubauen. Dadurch hatte der 16/17-jährige Tranquilo die Chance, seinen eigenen Geflügelhandel auf die Beine zu stellen. Angefangen hat er hier in Oberwinterthur und importierte lebendes Geflügel von Italien in die Schweiz. Er tauschte die Hühner bei den Bauern gegen ihre gealterten Hühner und hatte damit Erfolg, weil die Einheitsrasse damit aufgemischt wurde. Dementsprechend lief es ihm gut.

SB
Wochenmärkte waren ein Thema damals… Wie muss man sich das vorstellen? Waren das Hühnerkäfige, mit denen er auf den Markt ging?

SM
Ja das waren Holzkäfige, jeder Tierschutzverein hätte eine Krise heute. Kisten auf Wagen… das war damals noch anders in den 1920ern.

SB
Irgendwann kam dann dein Grossvater auf die Welt, Ludovico Mastai. Der heiratete deine Grossmutter, eine Tochter eines Fischhändlers – so kam der Fisch dazu. Aber Ludovico bleibt in Winterthur?

SM
Genau, sie zog zu ihm, weil Geflügel damals sehr gefragt war und damit ein Hauptprodukt des Betriebs. Der Fisch war sozusagen Beigemüse. Erst später wurde das Thema Fisch weiter ausgebaut, zusammen mit meinem Vater. Vor allem mit Tiefkühlprodukten und Mediterranem, z.B. Sardinen, die konnte man damals nicht einfach im Migros kaufen – wir waren sicher eine der Ersten, die Sardinen importiert hatten. Vor allem die ganzen Gastarbeiter kamen oft zu uns, weil sie hier die Produkte von zuhause kaufen konnten.

SB
Du bist auch in Winterthur geboren und auch nie weggezogen – die Familie Mastai und Winterthur scheint schicksalhaft verbunden!

SM
Ja, mein Urgrossvater kam zwar mehr oder weniger zufällig hierher, aber es gefiel ihm – ebenso meinem Vater. Ich glaube wir alle haben unser Herz an Winterthur verloren. Ich weiss, dass ich definitiv nicht von hier wegwill.

SB
Dir Firma Mastai ist in einem typischen Lagergebäude: Von Beton dominiert, Lieferrampe, es ist nur ein paar Minuten vom Bahnhof Hegi entfernt. Wir sind jetzt auf einem kleinen Rundgang.

SM
Jetzt ist es noch nicht so kalt, am Morgen ist es immer am kältesten bei etwa -22 Grad. Jetzt vielleicht etwa -19 Grad.

SB
Sieht aus wie bei Ikea, eigentlich, einfach deutlich kühler. Das sind alles Lebensmittel, also Fleisch und Fisch. Wenn ich Kunde bei euch wäre, was ist mein typisches Profil?

SM
Entweder bist du ein Gastronom oder du hast selber einen Lebensmittel-Handel. Das sind die Hauptkunden. Ausserdem Grossverteiler, die grosse Mengen beziehen, aber nur punktuell, keine Migros Ostschweiz z.B. Unsere Hauptkundschaft besteht eindeutig aus Gastronomen.

SB
Das ganze wuchs stetig in den letzten Jahren. Serainas Grosseltern haben sich mit den Kühllagern in der Region einen Namen gemacht – aber auch darüber hinaus.

SM
Die Seafood-Branche hat sich in den letzten Jahren extrem entwickelt. Zum einen führt die Überfischung dazu, dass die Nachhaltigkeit immer wichtiger wird. Dadurch verändert sich die ganze Branche. Dann auch Corona: Logistik, Verfügbarkeit, Infrastruktur stellen grosse Herausforderungen dar. Viele Produktionen waren in dieser Zeit geschlossen, was wir jetzt als Nachwirkung erleben. Diese Weihnachten haben wir zum Beispiel Probleme mit Crevetten: Viele Grössen gibt es gar nicht, die Preise steigen extrem. Gewisse Produkte haben wir nur im Minimal-Bestand. Auch dass der Wohlstand in Asien steigt, führt dazu, dass sich Seafood für uns verteuert, da dort die Nachfrage steigt.

SB
Reden wir über Aktuelles zum Beispiel die Firma Mastai. Sie existiert schon 100 Jahre, vieles hat sich verändert, einiges ist aber geblieben: Es ist immer noch ein klarer Familienbetrieb. Die Geschäftsleitung besteht aus dir, deinem Bruder und deinen Eltern. Wer ist denn der Chef oder die Chefin?

SM
Wir sind alle Chefs, wir entscheiden demokratisch. Wenn wir uns nicht einig sind, stimmen wir ab.

SB
Was würden deine Urgrosseltern sagen, wenn sie die Firma heute sehen würden?

SM
Das würde mich auch interessieren… Ich denke, über einiges wären sie schockiert – es hat sich halt viel verändert. Aber grundsätzlich fänden sie es gut, wie wir es heute machen. Es ist ja auch mehr oder weniger eine Weiterentwicklung dessen, was sie begonnen haben. Und wir sind mit Herzblut dabei, was bei ihnen damals sicher auch so war. Zuerst sicher aus der Not, mangels Alternativen, aber später war es für ihn sicher auch eine Quelle der Freude. Deshalb wollte er sich wohl auch selbstständig machen. Und das gilt auch für meinen Grossvater, meinen Vater, auch meinen Bruder.

SB
Dein Bruder und du seid seit etwa zehn Jahren mit dabei. Aber du hast ja schon mit 13 im Laden bei deinen Eltern mitgeholfen. War das so, weil es ein Familienbetrieb war, oder warst du richtig interessiert am Geschäft?

SM
Ich wusste schon früh, dass ich etwas mit Lebensmittel machen wollte, und zwar in diesem Betrieb. Der Weg dahin war nicht von Anfang an klar. Aber der Laden hatte damals auch Samstag auf, und da gingen wir schon als Kinder hin, um unseren Vater abzuholen. Der Laden am Samstag, das war schon immer etwas Traditionelles. Immer, wenn der Laden schloss, half ich meinem Grossvater, das Geld zu zählen. Er hat mir dabei zählen auf Italienisch beigebracht, daran erinnere ich mich gut. Mit 13 half ich dann im Verkauf, es machte mir Spass. Klar hatten wir zuhause auch von unseren Produkten, aber direkt in Verbindung war ich sonst nicht. Es gefiel mir, mehr über die Produkte und die Kunden zu lernen, unsere Stammkunden kennenzulernen.

SB
Mit knapp 30 Jahren bist du nun auch schon lange mit im Betrieb, die Kunden kennen dich also zum teil schon von klein auf.

SM
Im Laden erkennen mich die Leute zwar nur selten. Aber das stört mich auch nicht. Ich beobachte, dass sich viele Leute anders verhalten, wenn mein Vater als Geschäftsführer im Laden ist. Das finde ich interessant, umso mehr, wenn die Leute mich nicht so wahrnehmen.

SB
Du wolltest früher mal Hundecoiffeuse werden. Das hätte hier eigentlich einen Strich durch die Rechnung machen können.

SM
Stimmt, das wollte ich mal. Aber das war noch vor dem Teenager-Alter. Meine Tanten hatten immer Hunde, mein Vater aber nie. Damals wollte ich unbedingt einen Hund. Nummer eins auf der Wunschliste meines Weihnachtszettels war immer ein Hund. Als ich dann erkannte, dass es aber keinen geben würde, dachte ich, ich könnte dafür Hunde frisieren. Dann hätte ich jeden Tag verschiedene Hunde um mich herum. Das habe ich glaube ich in jedes Freundschaftsbuch geschrieben. Aber ich merkte dann schon, dass diese Karriere nichts für mich wäre. Ich habe auch heute noch keinen Hund, meine Eltern hatten da vielleicht schon recht. Es braucht halt viel Zeit, und davon habe ich nicht immer viel.

SB
Hast du dir schon vorgestellt, wie es wäre, eine normale Anstellung zu haben?

SM
Ja, regelmässig. Teilweise komme ich nach Hause und denke: Warum tu ich mir das überhaupt an? Wenn vieles aufs Mal kommt und man sieht das Licht am Ende des Tunnels fast nicht mehr, dann denke ich schon, es wäre schön, um fünf Feierabend zu machen. Einfach abschalten und am nächsten Tag wieder für die Kunden da sein. Das ist schon verlockend. Aber im Endeffekt glaube ich, es würde mich nicht so glücklich machen. Es braucht auch die schwierigen Momente, um die guten Momente zu schätzen.

SB
Die Branche hat sich recht verändert, hast du gesagt. Unter anderem auf der Webseite habe ich gelesen, dass die soziale und ökologische Nachhaltigkeit Teil eurer Werte sind. Was heisst das konkret?

SM
Es war schon immer wichtig für uns, dass die Qualität der Produkte stimmt. Natürlich haben wir Kunden, die das Billigste wollen. Dann ist die Auswahl der Produkte eher begrenzt. Aber die Produkte, die wir selbst einkaufen, haben wir aus Überzeugung: Die Qualität muss dort auch stimmen. Ein qualitativ hochwertiges Produkt wird auch dementsprechend produziert. Das Thema Nachhaltigkeit ist auch ein Schwieriges: Die meisten Leute haben vielleicht Seaspiracy gesehen und kaufen deshalb nur noch Produkte mit Labels. Aber ob die wirklich das halten, was sie versprechen… Wir haben aber Lieferanten, die auch Familienbetriebe sind, die wir teilweise auch schon lange kennen, über 60 Jahre Zusammenarbeit verbinden uns zum Beispiel mit einem Betrieb in Portugal. Alle Produzenten, die Interesse daran haben, ihr Werk an die nächste Generation zu übergeben, die müssen ja an nachhaltiger Produktion interessiert sein. Ausserdem konzentrieren wir uns schon auch je länger je mehr auf regionale und lokale Produkte, von Geflügel über Fleisch und Fisch, eigentlich bei allen Produkten. Deshalb haben wir zum Beispiel neu mit dem Kundelfinger-Hof ein Projekt, bei dem wir zusammen Gastronomie-Betriebe beliefern. Dadurch können wir regionale Produkte auch fördern und so dem Zeitgeist zu entsprechen. Ich finde es grundsätzlich eine schöne Entwicklung, dass die Leute bewusster sind, woher ihr Essen kommt und was sie überhaupt essen – dementsprechend auch bereit sind, mehr Geld dafür auszugeben.

SB
Der Ort Chiavenna, wo dein Urgrossvater herkommt – spielt der noch eine Rolle in euerem Betrieb oder in der Familie?

SM
Ja, wir gehen mehrmals jährlich nach Chiavenna. Jetzt zu Weihnachten haben wir wieder Panettone, Pandoro und Biscotti aus Chiavenna, aus einer kleinen Patisserie, die weit entfernt mit uns verwandt ist. Dort gibt es übrigens den besten Kaffee und auch das beste Glace, meiner Meinung nach. Mein Urgrossvater hat ausserdem ein Haus dort gekauft, und das ist immer noch im Familienbesitz. Das verbinden wir immer noch mit vielen Erinnerungen und Geschichten, auch die alten Möbel.

SB
Seraina, Vielen Dank für das Interview.
Der Fisch war sozusagen Beigemüse
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